U.S. Judge will 'rate' the Raters «In theory, Rating
Agencies have good reason to avoid conflicts of interest and to protect
the acuracy of their ratings, because they need to preserve their reputations…(…)…Rating
Agencies will not undertake activities with substantial expected costs
of litigation (unless, presumably, these activities also generated substanital
beneftits).» Ratingagenturen auf der Anklagebank In Amerika sorgt eine U.S. Sammelklage im Fall «Cheyne Finance» gegen die weltweit grössten Ratingagenturen für Aufsehen. Moody’s und Standard & Poor’s wurden wegen angeblich irreführender Anlageurteile eingeklagt. Mit auf der Anklagebank sitzt die Bank Morgan Stanley wegen ihrer Rolle als ‚Arranger’ und ‚Placement Agent’. Die Klage wurde, stellvertretend für die Sammelkläger, von der direkt betroffenen Abu Dhabi Commercial Bank mit Sitz in den Vereinigten Arabischen Emiraten und der King County des U.S.-Gliedstaates Washington eingereicht. Die New Yorker Bezirksrichterin Shira Scheindlin hat die Argumentation der beiden angeklagten Ratingagenturen Standard & Poor’s und Moody’s zurückgewiesen, wonach ihre unverbindlichen Rating-Bewertungen in den USA unter den ‚Free-Speech’ der ‚First Amendment’ – also die freie Meinungsäusserung, die im ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung garantiert ist – falle und die Ratingagenturen aus diesem Grund nicht belangt werden könnten. Als Begründung gab die Richterin an, dass die Rating-Kommentare sich in diesem Fall nicht an eine breite Öffentlichkeit gerichtet hätten, sondern nur einem begrenzten Kreis von Investoren zugänglich gewesen seien. Somit wird das Gerichtsverfahren fortgesetzt und weiteres Beweismaterial gesammelt. Es ist das erste Mal in den USA, dass der Verweis auf die Redefreiheit explizit zurückgewiesen wurde und damit der Weg zu einer Sammelklage geebnet wurde. Die Beklagten können daher, sofern sie den Prozess verlieren sollten, belangt werden. Allfällig zu leistende Entschädigungszahlungen könnten die Ratingagenturen teuer zu stehen kommen und weitere Prozesslawinen auslösen. Gerichtsprozesse als Zeichen des Vertrauensverlustes Die Kläger versuchen jetzt auf dem Rechtsweg einen Teil der erlittenen Verluste wieder hereinzubringen. Die Vorwürfe der Anklage lauten auf betrügerische und fahrlässige Bewertung von Wertpapieren (Fraud, Negligence, Contract Claims). Weil Immobilienkrisen wie die Jüngste äusserst selten sind, dürfte es nach Ansicht von Visual Finance nicht einfach sein, den Angeklagten schuldhaftes Verhalten nachzuweisen. Da der Missmut und die Klagebereitschaft der Investoren in den vergangenen Jahren stark zugenommen haben, ist es nun unausweichlich geworden, die Sachverhalte in ordentlichen Gerichtsverfahren klären zu lasen. Dies wird dazu führen, dass mehr Informationen zur Rolle der einzelnen Akteure im Zusammenhang mit komplizierten Anleihenprodukten an die Öffentlichkeit gelangen. Eine geschichtliche Aufarbeiten ‚In-the-Court’ wird, so unsere Hoffnung, mithelfen, dass sich verschiedene Fehler und moralische Verstösse nicht so schnell wiederholen. Einen genauen Überblick über die ‚Material Legal Proceedings’ verschaffen die schriftlichen Eingaben an die amerikanische Aufsichtsbehörde SEC betreffend den Jahresberichten (10Ks) und Quartalsberichten (10Qs) der kotierten Ratingagenturen in der Rubrik ‚Contingencies’. ¨ Cheyne Finance: No Masterpiece of Credit Risk Analysis Die Wertpapiere der Cheyne Finance LLC und Cheyne Finance Plc waren als strukturierte Investmentvehikel konzipiert (Structured Investment Vehicles = SIVs) und bei ihrer Emission mit hohen Gütesiegeln von den angeklagten Ratingagenturen ausgestattet worden. Da die Schuldverschreibungen mit minderwertigen Hypotheken besichert gewesen waren, wurden diese infolge der Verwerfungen am U.S.-Immobilienmarkt praktisch wertlos. Das autorisierte Emissionsprogramm (Euro Commercial Paper) von 2005 betrug hohe 10 Milliarden U.S.-Dollar. Das Emissionsvolumen aller Anleihen der Cheyne-Gruppe betrug ungefähr 20 Milliarden U.S.-Dollar. Gemäss dem «Global Rating Handbook» von Standard & Poor’s, welches doppelt so dick ist wie ein Telefonbuch, wurden ausgesprochen viele Anleihen durch Cheyne Finance emittiert, d. h. auf dem Kapitalmarkt platziert. Wir fragen uns, wer aus welchen Überlegungen solche Papiere erworben hat und wer hinter dem Namen Cheyne Finance genau steckt. Gemäss den Rating-Informationen von Standard & Poor’s hat der für Cheyne Finance zuständige Kreditanalyst schon am 19. Oktober 2007 – also exakt an jenem Tag, an dem sich der Börsencrash von 1987 zum zwanzigsten Mal jährte – die Anleihen in die tiefste Rating-Kategorie „D“ verbannt (Default = Zahlungsverzug). Anhand nur dieser Information können bereits interessante erste Erkenntnisse aus dem Streitfall gezogen werden: Schuldner, die nach nur etwas mehr als zwei Jahren bereits fallieren, sind für die betroffenen Investoren ein Albtraum. Verrückterweise haben besonders professionelle Anleger mit diesen Titeln viel Geld verloren. Das ‚Produkt’ scheint tatsächlich falsch konzipiert bzw. mangelhaft gewesen zu sein. Wenn die Kreditwürdigkeit innerhalb von nur zweieinhalb Jahren von einem Top-Rating auf die unterste Stufe zurückgeschraubt wird, liegt keine Meisterleistung der Ratingagenturen vor: im Gegenteil! Der Umstand, dass die Cheyne Finance bereits im Herbst 2007 kollabierte, zeigt, dass das Gebilde bereits eingangs der Immobilienkrise einstürzte. Es verfügte somit über keinerlei Widerstandskraft! Zur Erinnerung: Der Zusammenbruch der Lehman-Gruppe erfolgte erst ein knappes Jahr später am 15 September 2008. Ohne Detail-Kenntnisse zum spezifischen Fall Cheyne Finance zu verfügen, dürften von den Beklagten folgende Punkte zu optimistisch beurteilt worden sein:
Zusammengefasst: Bei der Konstruktion der Deckungsmasse dürften zu viele positive Annahmen bezüglich des Portfolio-Risikos getroffen worden sein. Die für die Bewertung verwendeten Modelle waren unausgereift und berücksichtigten keine Extremereignisse. Erschreckend sorglose Anlageentscheide der Grossanleger Die Käufer der späteren Ramsch-Papiere hätten unbedingt selber Überlegungen zu all diesen kritischen Schätzgrössen machen sollen. Falls die Käufer die Konstrukte nicht richtig verstanden haben, hätten sie diese einfach nicht kaufen sollen! Insbesondere bei Anlagefonds oder Pensionskassen, die gegenüber Dritten eine grosse Verantwortung tragen, sollten eigentlich ‚Informed Investment Decisions’ vorausgesetzt werden können. Eine zu hohe oder unreflektierte Modell-Gläubigkeit der Käuferschaft hat keinen Beitrag zur Finanzstabilität geleistet. Weshalb sich die Anleger darüber so wenige Gedanken machten, ist höchst verwunderlich. Und dass sich gerade eine der grössten Pensionskassen der Welt, die ‚California Public Employees’ Retirement System (Calpers)’, zu solchen Black-Box-Investments hinreissen liess, ist unverständlich: Sich ganz alleine auf das Urteil einer Ratingagentur zu verlassen, scheint im Falle von institutionellen Grossinvestoren etwas gar naiv. Zudem dürfte der Renditevorteil von SIV-Produkten nicht überrauschend hoch gewesen sein. Das Analyseverhalten vieler institutioneller Investoren war unzureichend. Calpers hat auf einem juristischen ‚Nebenschauplatz’ in gleich drei Fällen, gleich alle drei grossen Ratingagenturen (Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings) eingeklagt. Es geht neben der Cheyne Finance LLC um die Vehikel Victoria Funding und Sigma Finance. Das Anlagevolumen von Calpers in Notes und Commercial Papiers der erwähnten Schuldner beträgt rund 1,3 Milliarden U.S.-Dollar. Die potenziellen Verluste belaufen sich auf ungefähr 1 Milliarde U.S.-Dollar. Diese Zivilklage wegen völlig unangemessen hohen Ratings bei Emission wurde im Juli 2009 am ‚California Superior Court’ eingereicht. Die Hauptverantwortung tragen die Anleihenschuldner Bei aller Wut und Enttäuschung gegenüber der unbefriedigenden Leistung der involvierten Ratingagenturen darf nicht vergessen werden, dass der Erlös des Schuldpapier-Verkaufs alleine den Schuldnern zufliesst. Die Schuldner tragen die Haupt-Verantwortung für die ordnungsgemässe Zins- und Kapital-Rückzahlung gegenüber ihren Gläubigern! Die Ratingagenturen operieren in einem margenstarken und daher lukrativen Geschäftsbereich. Dies treibt ihre Kreditspezialisten an, rund um den Globus zu jetten und Schuldner zu analysieren. Dafür erhalten sie für ein Rating-Mandat etwa zwei oder drei Basispunkte des Emissionserlöses als Honorar für ihre Arbeit von den Schuldnern (1 Basispunkt = 0.01%). Im Falle von komplizierten strukturierten Produkten ist das Honorar in der Regel höher. Dies hat für falsche Anreize gesorgt und gefährliche Entwicklungen wahrscheinlich begünstigt. SIVs verfügten über Top-Rating, aber über wenig Bondholder Value® Strukturierte Schuldpapiere wie die SIVs haben oft keinen ‚Kopf’: Die Investoren wissen deshalb meist nicht genau, welche Führungsmannschaft hinter den Konstrukten steht. Dies ist ein gewichtiger Nachteil! Anleihen, die wie SIVs gebündelt werden, verfügen daher von vornherein über wenig Bondholder Value®. Im Gegensatz zu aktiv geführten Industrieunternehmen besitzen die SIV-Vehikel über wenig Steuerungspotenzial in Krisenfällen. Es handelt sich bei den SIVs quasi um mit Deckungsmassen ausgerüstete Autopilot-Konstrukte, die nach der Emission weitgehend selbstständig um das globale Finanzsystem kreisen! Wenn alles gut geht, verlässt das strukturierte Produkt den Orbit während der ordentlichen Laufzeit nicht und wird bei Verfall fristgerecht zurückbezahlt. Treten aber Probleme in der zur Sicherung vorgesehenen Deckungsmasse auf, ist der Investor voll und ganz dem Preisverlauf der entsprechenden Deckungsmasse ausgeliefert. Eine aktive Einflussnahme und Neuausrichtung des Geschäftsmodells wie bei Industrieunternehmen ist hier weitgehend ausgeschlossen. Kratzen an der ‚Immunität’ der Ratingagenturen vor Haftpflichtklagen In der Vergangenheit konnten sich Ratingagenturen, ganz im Gegensatz etwa zu Investmentbanken, sehr gut vor Haftpflichtklagen schützen. Seit den 1920er-Jahren wurden Haftpflichtklagen durch die Gerichte konsequent zurückgewiesen. Die bis anhin erfolgreiche Verteidigung der Ratingagenturen fusst vor allem auf zwei Argumenten:
Bis anhin waren die Richter gewillt diese Argumentationslinie zu akzeptieren. Dies bewog noch vor kurzem Rechtsexperten zur Aussage, dass die einzige Gemeinsamkeit aller Versuche die Ratingagenturen gerichtlich zu belangen, sei, dass die Ratingagenturen gewinnen würden. Bekannte Rechtsprofessoren haben immer wieder gewettert, dass die Ratingagenturen wie im früheren Fall von «Orange County» (Schadensumme: zwei Milliarden U.S.-Dollar) gegen Standard & Poor’s in einem Vergleich nur eine schäbige Zahlung von 0.007% leisten mussten, was der mickrigen Summe von 140'000 U.S-Dollar entspricht. Die Höhe der damaligen Vergleichszahlung gilt es allerdings zu relativieren. Wie bereits an anderer Stelle erörtert, beträgt ein Rating-Honorar einige Basispunkte. Im Fall von Cheyne Finance ist Richterin Shira Scheindlin nun allerdings nicht bereit, eine Sammelklage mit Verweis auf die ‚Free-Speech Amendment’ abzuweisen. Enron lässt grüssen Im Nachgang zum jähen Zusammenbruch des amerikanischen Energiekonzerns Enron hatte der so genannte ‚Watchdog-Report’ des U.S.-Senatskomitees ‚On Governmental Affairs’ untersucht, wie sich die internen Aufsichtorgane des Unternehmens der SEC als Finanzaufsichtsbehörde, die Aktienanalysten sowie die Ratingagenturen Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch als Marktauguren im Fall Enron verhalten hatten. Bei den Ratingagenturen wurden verschiedene Schwächen und Unzulänglichkeiten festgestellt, doch gegen die Verschwörung von Management und Revisoren hatten auch die Ratingagenturen keine Chance. Die Ratingagenturen gingen schlussendlich eher gestärkt als geschwächt aus der Enron-Krise hervor. Ratingagenturen nicht ohne Fehler, aber Gesamtperformance gut Trotz gewisser Fehler bei der Benotung einzelner Schuldner, insbesondere im Falle von strukturierten Produkten, ist es sinnvoll, für eine Gesamtbewertung der Arbeit von Ratingagenturen die verschiedene Ausfallwahrscheinlichkeits-Tabellen zu den diversen Credit-Rating-Kategorien herbeizuziehen. Obschon die Statistiken durch die jüngsten Turbulenzen etwas gelitten haben, sind die Resultate weiterhin sehr robust. Die Ausfallwahrscheinlichkeit der von Moody’s und Standard & Poor’s bewerteten Schuldner steigt stark an, je tiefer das Credit Rating und je länger die Laufzeit ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Gesellschaften mit sehr hohen Gütesiegeln innert Jahresfrist insolvent werden, ist im Durchschnitt (!) aller Bewertungen weiterhin noch sehr klein. Für Unternehmensanleihen mit einem Credit Rating im sogenannten Bereich ‚Investment Grade’ ist das Risiko eines Zahlungsverzugs kleiner als 1 Prozent. Solange der negative Zusammenhang zwischen der Höhe der vergebenen Credit Ratings und der Ausfallwahrscheinlichkeit weiterbesteht, scheint die Existenzberechtigung der Ratingagenturen gegeben. Dies gilt selbst nach den spektakulären Fällen wie Enron, Worldcom, Parmalat oder Lehman Brothers zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Konklusion – Überlegungen zum weiteren Prozessverlauf Seit dem Ausbruch der Immobilienkrise vor mehr als zwei Jahren durchleuchten Legislativ-, Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden rund um den Globus die Geschäftspraktiken der Ratingagenturen. Der Fokus der Untersuchungen richtet sich auf den ‚U.S. Subprime Mortgage-Backed Securitization Market’ bzw. ‚Structured Finance Market’. Visual Finance erachtet eine Klärung der Rolle der Ratingagenturen in dieser Angelegenheit als notwendig. Der Unmut der Investoren gegenüber den Ratingagenturen hat sich im Laufe der Wirtschaftskrise zugespitzt. Die Klagen sind Ausdruck eines Missbehagens und eines Vertrauensverlustes. Wir erhoffen tiefere Einblicke in die Arbeit der Ratinginstitute in den zur Frage stehenden Rechtsfällen. Weitere Informationen werden helfen zu verstehen, wie es zur Vergabe von hohen Credit Ratings zum Zeitpunkt der Anleihen-Emissionen kommen konnte. Es ist gut möglich, dass die Ratingagenturen ein weiteres Mal mit einem blauen Auge davon kommen werden. Bestimmte Streitpunkte dürften mit der Leistung einer Vergleichszahlung beigelegt werden. Vielleicht werden die Marktteilnehmer da und dort feststellen müssen, dass die Ratingexperten mit ihren Kreditwürdigkeits-Prüfungen ganz einfach ihr Geld nicht wert waren! Diese wäre eine ernüchternde Erkenntnis. Doch die Bonitätsanalyse war noch nie eine exakte (Natur-)Wissenschaft. Nur schlecht informierte Investoren glauben dies womöglich selbst heute noch. Eine ganz harte Bestrafung der Ratingagenturen, die mit sehr hohen Entschädigungszahlungen verbunden wäre, würde die globalen Bonitätswächter empfindlich schwächen, was gefährliche Rückkoppelungseffekte auf das bereits fragile Finanzsystem zur Folge hätte. Dafür würden hoffendlich nicht mehr so viele kompliziert strukturierte Anleihen auf die Kapitalmärkte gelangen, was positiv zu werten wäre. In einer Abwägung der unterschiedlichen Positionen und Risiken gelangen wir zum Schluss, dass eine Beilegung der verschiedenen gerichtlichen und aussergerichtlichen Auseinandersetzungen mit Mass und Weitsicht nicht nur wünschenswert, sondern auch wahrscheinlich ist. ——— Im Zusammenhang mit dem Gerichtsfall Cheyne Finance haben wir einen Artikel
für die FINANZ und WIRTSCHAFT verfasst: ——— «While it is unfortunate
that Quinn lost money [Mr. Maurice Quinn had purchased USD 1.29 million
of A-rated collateralized mortgage obligations, which were downgraded
to CCC and defaulted soon thereafter], and we take him at his word that
he would not have bought the bonds without the S&P’s ‘A’
Rating, any reliance he may have placed on that rating to reassure himself
about the underlying soundness of the bonds was not reasonable.»
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